Schlafen ist eines der grundlegendsten Bedürfnisse des Menschen – und doch wurde es über Jahrzehnte hinweg systematisch reglementiert, ja fast schon diszipliniert. Was heute viele Eltern als „normale“ Schlafgewohnheit betrachten – etwa dass Babys früh allein schlafen oder Kinder nachts nicht zu den Eltern ins Bett dürfen – ist historisch betrachtet keine universelle Norm, sondern das Ergebnis bewusster kultureller Prägung. Eine Schlüsselfigur dieser Entwicklung: Johanna Harderer, eine deutsche Erziehungsberaterin während und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Johanna Harderer und die Erziehung zur Schlafhärte
In einer Zeit, in der der Nationalsozialismus das gesamte gesellschaftliche Leben durchdrang, wurde auch der Schlaf politisiert. Johanna Harderer propagierte in ihren Ratgebern eine strenge, kontrollierte Schlafkultur: Neugeborene sollten möglichst früh allein schlafen lernen, am besten in einem eigenen Raum. Körperliche Nähe wurde als Schwäche oder „Verweichlichung“ interpretiert, das Durchschlafen als Zeichen von Stärke und Disziplin.
Diese Konzepte passten zur Ideologie jener Zeit: Der Mensch sollte hart, unabhängig, leistungsfähig sein – und das Training begann bereits in der Wiege. Was damals als moderne Pädagogik gefeiert wurde, war in Wahrheit eine Abkehr von den uralten, bindungsorientierten Schlafgewohnheiten der Menschheit.
Die Folgen für Generationen
Was als „Erziehung zur Selbstständigkeit“ verkauft wurde, hinterließ Spuren – nicht nur bei den Kindern, sondern in ganzen Generationen von Eltern. Viele Menschen, die selbst mit Distanz und Strenge aufgewachsen sind, gaben das unbewusst an ihre Kinder weiter. Besonders deutlich zeigt sich das im Umgang mit dem nächtlichen Schlaf:
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Babys werden früh ins eigene Zimmer gelegt, obwohl ihr natürliches Bedürfnis nach Nähe wissenschaftlich belegt ist.
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Eltern kämpfen mit schlechtem Gewissen, wenn sie das Familienbett nutzen – weil „man das doch nicht macht“.
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Nächtliches Weinen wird als „Antrainieren“ von schlechten Gewohnheiten gesehen, statt als Ausdruck eines kindlichen Bedürfnisses nach Nähe.
Bindungsforscher und Psychologen warnen heute eindringlich vor dieser Art von „Schlafhärte“. Sie betonen: Der Schlaf ist kein Erziehungsprojekt, sondern ein Schutzraum – besonders für Babys und Kleinkinder.
Was Eltern heute tun können – 5 Impulse für einen liebevollen Umgang mit Schlaf
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Vertraue deinem Gefühl: Wenn dein Baby bei dir schlafen möchte – erlaube es. Nähe ist kein Rückschritt, sondern ein Grundbedürfnis.
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Informiere dich bindungsorientiert: Viele alte Schlafratgeber basieren auf veralteten Ideologien. Moderne, bindungsorientierte Konzepte beruhen auf aktuellen Erkenntnissen aus Psychologie und Neurowissenschaft.
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Räume mit alten Glaubenssätzen auf: „Das Kind muss lernen allein zu schlafen“ ist kein Naturgesetz, sondern ein kultureller Mythos.
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Schaffe sichere Nähe: Ob Familienbett oder Beistellbett – wichtiger als das „Wo“ ist das „Wie“. Nähe, Sicherheit und liebevolle Begleitung fördern gesunden Schlaf.
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Sprich offen über deine Erfahrungen: Viele Eltern empfinden das nächtliche Familienleben als belastend – oder schämen sich dafür, nicht „konsequent“ zu sein. Doch der Austausch mit Gleichgesinnten kann entlasten und Perspektiven öffnen.
Buchtipps – Für mehr Verständnis und Vertrauen in kindlichen Schlaf
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„Schlafen statt Schreien“ von Elizabeth Pantley
Ein sanfter Weg, Babys liebevoll in den Schlaf zu begleiten – ohne Tränen oder Zwang. -
„Geborgen schlafen – von Anfang an“ von Herbert Renz-Polster & Nora Imlau
Ein fundierter Überblick über die Entwicklung von Schlaf, historische Hintergründe und bindungsorientierte Wege für die ganze Familie. -
„In Liebe wachsen“ von Carlos González
Über das Bedürfnis nach Nähe, Respekt und kindliche Entwicklung – auch beim Thema Schlaf. -
„Menschenkinder“ von Herbert Renz-Polster
Warum Kinder so sind, wie sie sind – und warum unsere Vorstellungen von Schlaf oft nicht zu ihrer Natur passen.
Fazit: Nähe heilt – auch im Schlaf
Die Geschichte der Schlafhärte zeigt, wie tief gesellschaftliche Ideologien in unseren Alltag eingreifen – bis ins Kinderzimmer. Doch es liegt an uns, diese Muster zu erkennen und neu zu gestalten. Jedes Baby, das heute geborgen einschlafen darf, ist ein Schritt hin zu einer gesünderen, feinfühligeren Schlafkultur.
Denn: Nächtliche Nähe ist kein Versagen – sie ist Fürsorge.
Den ersten Schritt können Eltern hier setzen, indem Sie sich mit dem Thema Bonding und Familienbett aktiv auseinandersetzen.